Die Kunst des Aufnehmens. Oder: "Hoffentlich quatscht er nicht rein!"

Die wöchentliche Hitparade: Spannung, Genuss und verdammt harte Arbeit.

Eine Herztransplantation war ein Dreck dagegen.
Lesedauer: 5 Minuten, die sich lohnen.

Man kam sich vor wie ein Chirurg vor einer OP: Kassette ins Kassettenfach einlegen, ans Ende des zuletzt aufgenommenen Liedes spulen, das Band 3 Sekunden weiterlaufen lassen, zunächst *Stop* und sodann gleichzeitig *Record*, *Play* und *Pause* drücken – und dann: warten. Warten, bis der Hitparaden-Moderator ankündigt, den nächsten Top-Hit zu spielen, der von den Radiohörern auf Platz soundso gewählt worden ist und „den man noch nicht hat“. Meint: „den man noch nicht auf Kassette gebannt hat“. Entweder, weil der Song erstmals platziert – und ergo der heißeste neue Scheiß – ist, oder weil man ihn zuvor verpasst hatte, oder weil man ihn erst jetzt, nach mehrmaligem Hören, dann doch ganz gut findet und als aufnehmenswert erachtet. Schließlich ist der Platz auf den vom knappen Taschengeld erstandenen Leerkassetten (zumeist von  BASFTDK oder Maxell) rar und daher extrem kostbar. … Da, der Moderator meldet sich: „Und nun: Platz Nummer Fünf!“ … für einen Moment steht die Zeit still, die Spannung ist unerträglich: Welcher Song wird es sein?!? Ist es der ersehnte? Werde ich in wenigen Minuten eine in meiner Songsammlung klaffende Lücke geschlossen haben?!? Oh, falls er nicht – Angst umklammert mein kleines Herz – gegen Ende des Liedes zu früh reinredet … hoffentlich nicht … bitte, bitte nicht …
Wer in den späten Siebzigern bzw. in den Achtzigern aufwuchs und musikbegeistert war, kennt diese Szenerie – sie spielte sich Woche für Woche im Kinder- bzw. Jugendzimmer ab. Die wöchentliche Hitparade: Zwei Stunden lang vergoss man Blut, Schweiß und Tränen.

Wenn die Displays magisch leuchteten …

Die Bedienung einer NASA Mondfähre war dagegen ein Kinderspiel.

Zwei Stunden lang pures Spektakel.

Wer mich kennt, weiß, dass ich von einer „Früher war alles besser“-Haltung weit entfernt bin. Obwohl sich ABBA und die Beatles getrennt haben und aller Grund dafür bestände. Doch zur Herausbildung des persönlichen, kindlich-jugendlichen Wertekanons war das Thema ‚Musik und wie ich sie bekomme‘ für unsere Generation von elementarer Bedeutung.

Klar: Jeder mag Musik. Heute genügt ein Klick zum sekundenschnellen Download, bevor es das Internet, Musikfernsehen oder auch nur eine Anmutung der heutigen Medienwelt gab, war jedoch nichts davon ganz einfach so greifbar – und schon gar nicht jederzeit. Klingt komisch, war aber so.

Der Wert, den eine vom knappen, zusammengesparten Taschengeld gekaufte Schallplatte daher besaß, oder den ein Lied hatte, auf das man tagelang hatte warten müssen, bis es im Radio gespielt wurde, so dass man es auf Kassette aufnehmen und dann so oft hören konnte, wie man wollte, schulte jedenfalls nicht nur mein Werteempfinden enorm. Anders gesagt: Man lernte, einem persönlich wichtige Dinge zu schätzen, weil es einiger Anstrengungen bedurfte, sie zu erhalten. Wie zum Beispiel die aktuellen Charthits auf Kassette.

Ganz gleich in welchem Sendegebiet Deutschlands man lebte, welcher der persönliche Haussender war und egal wie die Sendung und der Moderator hießen – ob also die ‚Hitparade International‘ mit Werner Reinke auf hr3, die ‚SWR 3 Hitline‘ mit Elmar Hörig oder Stefanie Tücking (sonntagsabends von 18:00 bis 20:00 Uhr), ‚Fritz und Hits‘ mit Fritz Egner auf Bayern 3, die entsprechenden Formate auf NDR 2 oder WDR 2 oder welche Chartshow auch immer: Die Hitparade und das Abenteuer des Mitschneidens auf Tape waren Happenings, implizieren identische Erfahrungen und wecken heute dieselben Erinnerungen.

Immer wieder donnerstags. Vor allem: donnerstags.
Ein Beispiel: Donnerstags ging in Hessen – auf hr3 – zwischen 19:00 und 21:00 Uhr die ‚Hitparade International‘ mit Moderator Werner Reinke auf Sendung. Sie war von 1974 bis 1989 das Epizentrum jugendlich-hessischen Musikinteresses. Denn hier geschah es: Hier bekam man, eingebettet in eine mitreißende Show und von der markanten Stimme Reinkes befeuert, quasi alle aktuellen Hits aus Pop und Rock serviert. Das Beste: Die Songs wurden so präsentiert, dass man es als nach ihnen lechzender Aufnahme-Musikus leicht hatte, sie mitzuschneiden und dadurch für alle Zeiten zu besitzen. Hot: Schon tags drauf waren sie in der Schule, auf Kassette in den Ghettoblaster von Klassenkamerad Martin eingelegt, Ausdruck des jugendlichen Horizonts und Zeitgeistempfindens.

Damit war der Schultag gerettet: im Schulbus, auf dem Weg von der Bushaltestelle zur Schule, in den Pausen und ab 13:00 Uhr wieder zurück zum sowie im Bus. Martin in der Mitte, alle anderen, möglichst nah drum herum.

Kaum zurück vom Fußballtraining meiner D-, C- oder B-Jugendmannschaft, schaltete ich meinen Kassettenrecorder der Marke Philips bzw. ab Juni 1984 meine Stereoanlage der Marke Pioneer ein. Endlich waren die Nachrichten und der Verkehrsservice vorbei, endlich erklang das die Sendung eröffnende Jingle: „Hitparade – Internationaaaaaal … mit Wer-ner Reeeiiiinnkkeeee!“ Ab jetzt war der Zirkus in der Stadt. Markant war auch die Unterlegmusik, auf die Meister Reinke seine Begrüßungsmoderation drapierte: ‚The Human League – Being Boiled‘. Die hatte er jedoch etwas hochgepitcht (= die Schallplatte in einer höheren Geschwindigkeit abspielen), im Radio lief sie schneller. Und das muss man sich mal vorstellen: Da sitzt der Moderator im Studio vor seinem Mikro und legt entweder selbst die nächste Schallplatte auf oder die redaktionelle Hilfskraft hinter der Glasscheibe ihm gegenüber erledigt das. Nix digital. Alle paar Wochen sprang eine Platte dann auch mal oder blieb hängen – für den Aufnehmenden zu Hause war das natürlich eine mittlere Katastrophe, denn damit war die Aufnahme futsch, das Warten auf genau dieses Lied vergebens gewesen. Zum Glück war Werner Reinke gnädig und startete entweder direkt einen zweiten Versuch oder, wenn das aus Zeitgründen nicht möglich war, initiierte er beim Moderator der ab 21:00 Uhr auf seine Show folgenden Sendung eine Wiederholung dort. Im worst case musste man eine Woche lang warten und darauf bauen, dass sich der Song abermals platzieren würde. Drama, Baby! 😉

Gleichzeitig gedrückt: *Record**Play*, *Pause* – und den Zeigefinger auf *Pause*.

Als aufmerksamer Beobachter der offiziellen Verkaufscharts und konstanter Hitparadenhörer wusste man natürlich ungefähr

∙ wann mit einem bestimmten, sich in den Top 75 neu platziert habenden, potenziellen Mega-Hit auch in der Radio-Hitparade zu rechnen war (in der Regel in der Sendung unmittelbar darauf)
∙ wie schnell sich ein Song Donnerstag für Donnerstag Richtung Platz 1 vorschieben würde
∙ wie lange sich das Lied auf Platz XY halten würde
∙ wann sich das Lied wieder nach unten orientieren würde

Warum das alles so wichtig war? Weil man die Uhrzeit, wann ein bestimmter Song, den man aufnehmen wollte, zwischen 19:00 und 21:00 Uhr möglichst exakt einschätzen musste. Schließlich konnte man nicht einfach 2 Stunden lang abgeschottet vom Rest der Welt im Jugendzimmer sitzen und Radio hören, sondern man musste nach dem Fußballtraining duschen, mithelfen, den Abendbrottisch zu decken, Abendbrot essen, den Tisch wieder abräumen, evtl. noch eine letzte Hausaufgabe erledigen. Während all dem galt es, das Ohr am Geschehen zu behalten. Timing war alles. Ergo die Situation bei uns am Abendbrottisch: In unseren Jugendzimmern hatten mein Bruder und ich unsere Kassettenlaufwerke präpariert (wie oben zu lesen), die Hitparade war zu hören: in Olivers Zimmer, in meinem Zimmer, im Wohnzimmer, und die Eltern fragten genervt, ob das denn wirklich alles sein müsse. Unsere Antwort: ein knappes, kompromissloses „Ja!“
Dann – die Spannung war greifbar, die Luft zum Schneiden dick – kündigte der Moderator den Song an, auf den man gewartet hatte (bzw. einen der Songs, auf die man gewartet hatte) und dann ließ entweder ich oder mein Bruder oder ließen wir beide unser Besteck fallen, schoss also entweder ich oder mein Bruder oder schossen wir beide wie von sämtlichen Taranteln gestochen in unser(e) Zimmer, hechteten vor unser aufnahmebereites Tapedeck und drückten hoffentlich genau dann, wenn das Jingle „Hit Nummmmeeer Eeeeiiiinnnsss“ verklungen, der erste Takt des Songs jedoch noch nicht erklungen war, die *Pause*-Taste. Hatte ich erwähnt, dass Timing alles war? Denn dann begannen sich die beiden Rädchen inmitten des Kassettengehäuses nach links zu drehen – das beruhigende Zeichen, dass man das Lied mitschnitt. Geschafft! Glücksgefühle.

Jetzt begann das Zittern: "Hoffentlich quatscht er nicht rein!"

Hatte man – millisekundengenau – hoffentlich den richtigen Moment des Loslassens der *Pause*-Taste erwischt und drehte sich in der Kassettenschublade das Magnetband, so verblieb dennoch eine letzte Hürde: das Ende des Songs – und damit das Ende der Aufnahme – sowie die damit verbundene Frage, wie das Lied beendet würde … Stoßgebete gen Himmel: „Hoffentlich spielt der Moderator das Lied bis zum Ende aus und redet nicht zu früh hinein … Im Ideeeaaaalfall würde er uns treu ergebenen Hörern sogar noch eine Sekunde völliger Stille schenken, damit wir auf *Pause* drücken könnten, ohne einen ersten Sprachfetzen „mitzunehmen“ …
Alternativ zu diesem Gefühl des völligen Ausgeliefertseins erwog man (man kannte seinen Moderationspappenheimer ja mittlerweile und wusste daher, wann er gen Ende eines Songs zu dessen Abmoderation anzusetzen pflegte), selbsttätig, mittels des Aufnahmepegel-Reglers, auszublenden. Hier bestand jedoch die Gefahr, womöglich zu früh mit der Ausblendung zu beginnen und dadurch einige Sekunden der kostbaren Aufnahme zu verschenken. Leben am Limit.
Zum Glück war Werner Reinke immer auf der Seite seiner Hörer: Er spielte jeden in den Top 10 platzierten Song aus und sprach lediglich in die Neuvorstellungen hinein. Aber die waren ja im Idealfall schon eine Woche später ebenfalls platziert, sprich: von den Hörern in die ‚Hitparade International‘ hinein gewählt worden, und wurden ergo spätestens dann ausgespielt. Von Herzen „Danke, Werner!“ 🙂

Die Nachbereitung: Bestandsaufnahme, Manöverkritik, Optimierungen.

Da es während der Sendung ja Schlag auf Schlag ging und ein Hit den nächsten jagte, blieb wenig bis keine Zeit, um zu überprüfen, ob denn die bereits getätigten Aufnahmen punktgenau begonnen hatten respektive ob sie in Perfektion beendet worden waren. Alles, was man während der Sendung tun konnte, war, nach jedem mitgeschnittenen Song 3-4 Sekunden Pause (= Stille) zu lassen, um nachträgliche Löschungen ggf. mitgeschnittener Sprachfetzen vornehmen zu können, ohne dass der Anfang des anschließend aufgenommenen Liedes angetastet würde. Zum Zwecke einer Sprachfetzenlöschung musste man kurz vor dem Einsetzen der unabsichtlich aufgenommenen Moderatorenstimme auf *Record*, *Play* und *Pause* drücken, den Aufnahmepegel ganz runter drehen, *Pause* sodann loslassen und dadurch den Sprachfetzen mit Stille überblenden. Das war zwar in gewisser Weise eine Notlösung, aber mir persönlich lieber als ein Stimmenextrakt. Puuh …

Heute unvorstellbar, damals normal: Aktuelle Songs mussten mühsam gejagt werden.
Ein weiterer Tagesordnungspunkt der Manöverkritik: Welche Songs hatte man zu seiner Sammlung hinzufügen können, welche fehlten weiterhin? Denn man bekam ja nicht wirklich alle-alle-alle aktuellen Hits in ein und derselben Sendung zu hören. Wollte man also am ultimativen Musikpuls der Zeit sein, galt es, Lieder, die nicht in der ‚Hitparade International‘ platziert waren, sonntags in der ‚Hitline‘ auf SWR 3 zu erlegen. Oder am frühen Mittwochabend auf WDR 2. Oder direkt anschließend auf Bayern 3. Ganz einfach, um möglichst das Geld für den Kauf der teuren 7“-Vinylsingles zu sparen. 6 DM für eine Single waren schließlich ein kleines Vermögen. Auf eine 90er-Leerkassette hingegen passten knapp 25 Songs, das war viel wirtschaftlicher. So kosteten im Musikfachhandel meines jugendlichen Vertrauens, im ‚Breitenfelder‘ auf der Kaiserstraße unserer Kreisstadt Friedberg, zwei BASF Chromdioxid Super II 9,90 DM. Das war Platz für umgerechnet ca. 50 Songs, damit konnte man mehrere Wochen lang arbeiten. Wenn nicht sogar Monate. Daher ist jedes fertiggestellte Mixtape viel mehr als nur eine Ansammlung von Songs: Es ist ein Zeitdokument.

Ach ja, das hätte ich beinahe vergessen: den Aufnahmepegel, den Bandsortenschalter und Dolby NR.

Diese Schalter, die eine hypermoderne Stereoanlage des Jahres 1984 selbstverständlich besaß, eröffneten weitere Aufnahmeoptionen, warfen jedoch damit zusammenhängende Fragen auf.

Die Sache mit dem Aufnahmepegel war noch vergleichsweise einfach: Je höher er eingestellt war, desto mehr lief man Gefahr, dass die Aufnahme verzerrte. Je tiefer, desto dumpfer klang hinterher ein Lied.
Man justierte den Pegel also so, dass er möglichst eine Allgemeingültigkeit besaß, egal ob für ein basslastiges Stück, das ergo nicht zu hoch aussteuern durfte, oder für eine Ballade, die vor sich hin waberte, aber auf Tape dennoch klanglich ausgereift daherkommen sollte. Höchstens ein klein wenig nachjustieren, live, während der Aufnahme – ein durchaus kleiner Ritt auf der Rasierklinge …

Offerierte das Tape Deck die Option einer Bandsortenwahl, z. B. ‚Chrome‘ oder ‚Ferro‘, so lohnte sich ein Experiment, gleichwohl man z. B. ausschließlich Chromdioxid-Kassetten verwendete. Denn: Ein Chromdioxid-Tape, auf das man unter Anwahl des ‚Ferro‘-Modus aufnahm, klang etwas anders, als nach der Verwendung der ‚Chrome‘-Variante. Und umgekehrt. – Bevor Sie fragen: Ja, ich hatte Freunde. Ja, ich spielte Fußball wie ein Bekloppter und jagte auf meinem Fahrrad durch die Straßen unseres Dorfes – aber während Klassenkameraden auf ihrem C64 erste Programmierversuche unternahmen, dechiffrierte ich meine Stereoanlage. 😉

Nächstes Stichwort: Dolby NR. Das NR stand für ‚Noise Reduction‘. Es handelte sich, wie Kenner wissen, um ein Rauschunterdrückungssystem: Es unterdrückte bzw. minimierte das bei Kassetten obligatorische Hintergrundrauschen. Ich erinnere mich an den Kauf meiner ersten Stereoanlage, am Tag nach meiner Konfirmation, im ProMarkt in Ffm-Eschborn. Aufgeregt wie ein Fußball-Nationalspieler vor’m WM-Finale betrat ich in Begleitung meiner Erziehungsberechtigten den Store. Schnurstracks in die richtige Abteilung und einen Verkäufer angesprochen, der präsentierte mir dann diese und jene Anlage, bevor er mich zu einem technischen Wunderwerk der Marke Pioneer führte. Er erklärte mir zunächst diverse andere Geräteeigenschaften, bevor er die magischen Worte sprach: „Das Kassettendeck bietet etwas völlig Neues: Es hat Dolby.“ Ich: „Was ist Dolby?“ Er: „Das ist ein Rauschunterdrückungssystem.“ Ich war starr vor Begeisterung. WAS FÜR EIN HEISSER SCHEISS!!! Die Entscheidung war gefallen.

In den kommenden Wochen experimentierte ich, welche Aufnahmevariante am besten klänge: mit Dolby aufnehmen und auch abspielen; mit Dolby aufnehmen, aber ohne Dolby abspielen; ohne Dolby aufnehmen, aber mit Dolby abspielen oder ohne Dolby aufnehmen und auch abspielen. Ich kam mir vor wie ein Raketenwissenschaftler.

Heute weiß ich: So schulte ich mein Gehör, entwickelte ich ein extrem feines Gefühl für Klänge, Klangoptionen und -qualitäten. Etwas, das mir auch als DJ zugute kommt.

Meine jahrelang (wie zuvor beschrieben) bespielten Kassetten lagern im hintersten Eck meines Kellers, aber hier einige meiner ab 1992 entstandenen Tapes, die ich greifbar habe: u. a. mit während der hr3-Clubnight aufgenommenen DJ-Sets. Sorgsam beschriftet, durchnummeriert und heiß geliebt 🙂

Ob genau so oder so ähnlich: Es sind die Erfahrungen (m)einer Generation.

„Genau so war’s!“, „Was hab ich geflucht, wenn er reinquatschte!“, „Und wenn man dann noch zwischendrin Bandsalat hatte!“ – wer zur (später entsprechend des gleichnamigen Buchs von Florian Illies genannten) „Generation Golf“ gehört – wer also in den Siebzigerjahres geboren wurde, kennt das alles. Und auch wenn das alles für heutige Ohren ziemlich befremdlich klingen mag: Es waren und sind wichtige Erfahrungen. Weil man dadurch das Wertschätzen lernte. Man lernte, sich Zeit für etwas zu nehmen, auf etwas zu warten – und sich dann umso mehr darüber freuen, wenn man es endlich hatte. Und wenn es nur ein bestimmtes Lied war – damals jedoch war es die Welt. So lotete man unbewusst Emotionalitäten, Gefühlszustände, aus. Das war (und ist) charakterbildend.
Wie schade, dass die Generierung neuer Musik heute oftmals, gerade für viele jüngere Menschen, ein emotionsloser Downloadvorgang ist. Aber: Das ist eben so, as time goes by. Ich bin jedoch überaus dankbar dafür, das hier Geschilderte erlebt zu haben – und ich kenne niemanden meiner (bzw. ja vielleicht unserer) Generation, der es nicht ebenfalls ist. Wie schön, sich bis über beide Ohren grinsend über derartiges auszutauschen und dabei jene Werte zu zelebrieren. Auch wenn es manchmal ein bisschen freaky anmutet. Sehr gerne. 😉 Und genau das meine ich auch, wenn ich erzähle, mich während einer Party, auf der ich auflege, darüber zu freuen, auf diese oder jene Platte angesprochen zu werden. Weil ich dann spüre, was dieser Song diesem Menschen bedeutete – und noch immer bedeutet.

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Das Mixtape. Die ultimative Liebeserklärung.

Man(n) sagte es durch Musik.

Alles hatte eine Bedeutung: die ausgewählten Songs, ihre Reihenfolge, die Kassettenbeschriftung.
Lesedauer: 6 Minuten, die sich lohnen.

Ein Mixtape hatte einen geheimen Code. Im Grunde war es wie im Film ‚The Da Vinci Code – Sakrileg‘ mit Tom Hanks und Audrey Tautou. Die verborgene Botschaft lautete: „Ich steh auf dich, aber ich weiß nicht, wie ich es dir zeigen geschweige denn sagen soll, und weil es auch niemand wissen darf, dass ich dich mag, weil meine Kumpels mich sonst auslachen würden, sage ich es dir durch dieses Mixtape.“ Kaum 13, 14 Lenze jung, kam man sich vor wie eine Mischung aus Don Juan und James Bond. Für heutige Jugendaugen übersetzt: Ein Mixtape war ein musikalischer Emoji. Nein, es war viel mehr als das. Es war das eigene kleine Herz auf einem Silbertablett überreicht. Auf einem Silbertablett der Marke BASF, TDK oder Maxell. Darauf packte man alles, was der gerade einsetzende, persönliche Sturm und Drang einem emotional ermöglichte sowie alles, was man über „Boy meets Girl“ bereits wusste – bzw. was man glaubte, zu wissen. Sie wissen was ich meine. 🙂
Jedenfalls glichen die Planung und die Umsetzung eines Projekts „Mixtape“ einer wissenschaftlichen Abhandlung, seine Überreichung war eine Mutprobe. Aber all das war es wert – bestand doch die berechtigte Hoffnung auf einen Zugewinn an Sympathie vonseiten der insgeheim angebeteten jungen Dame. Anders gesagt: Die Anfertigung eines Mixtapes war eine heilige Mission.

Vergesst Walther von der Vogelweide – hier kommt Matthias aus der Ringstraße!

Im Hochmittelalter zogen Minnesänger wie Walther von der Vogelweide und Wolfram von Eschenbach durch die Lande, schlugen die Laute und – so wollte es die hohe Minne-Schule – gaben unter dem Balkon des angeschmachteten Burgfräuleins ihre Liedkunst zum Besten. Ohne Aussicht auf Erfolg, dramatischerweise. Denn ein Minnesänger durfte ausschließlich schmachten und leiden, aber SIE niemals erobern. So wollten es die Standesregeln. Na toll.
Doch nun, wir schrieben die frühen Achtziger, wohlan und Mut geschöpft! Statt Pferd, Laute und Althochdeutsch-Hit waren es bei uns also Schulbus, BASF-Kassette und ‘Foreigner – I Want To Know What Love Is‘. Die Erfolgsaussichten: im Grunde ebenso vage. Doch die Hoffnung starb auch schon bei einem 13-Jährigen zuletzt. Also zog man in die Schlacht. (Junger) Mann, war das aufregend! Ein Finale von DSDS war ein Scheiß dagegen.

Hier die Herangehensweise an ein Mixtape.
Es war genau so, wie nachfolgend beschrieben. Liebe Männer: Ihr wisst, von was ich spreche. Holde Damen: Ihr erfahrt es spätestens heute.

Schritt 1: Klärung der grundlegenden Fragen.
Als da waren:

Frage 1: Wie deutlich soll die Botschaft werden? Denn daraus resultierte wiederum die Frage: „Nur Lovesongs oder Lovesongs mit ‚normalen‘ aktuellen Hits gemischt?“
Dass unabhängig von der Antwort Lieblingssänger / die Lieblingssängerin / die Lieblingsband der Beschmachteten auf dem Magnetband vertreten sein würde, war natürlich selbstverständlichst.
Frage 2: Welche Lieder sind Pflicht und müssen drauf, welche sind Ergänzungen – für den Fall, dass die geschätzte kumulierte Gesamtspieldauer im Verhältnis zur tatsächlichen Bandlänge in Minuten (90er- oder 60er-Tape?) noch etwas Platz ließ?
Frage 3: Welcher Song soll bzw. muss das Mixtape eröffnen? Denn ihm kam eine besondere, ja: programmatische, Bedeutung zu, in Bezug auf die Gesamtaussage!
Frage 4: Welches sind die ersten 3 bis 5 Songs auf Seite 1? Welches sind die beiden ersten Songs auf Seite 2 – und welches werden (in geschätzter Abhängigkeit von der Bandlänge, s. o.) die beiden letzten Songs des Tapes sein? Denn, klar: Sie würden besonders in Erinnerung bleiben, sie mussten den Gesamteindruck (= die Gesamtaussage) vollenden!
Frage 5: Wie sollte die Beschriftung der Kassettenhülle lauten bzw. gestaltet sein? Dies implizierte auch die beiden schmalen Aufkleber, oben oder unten, auf den beiden Seiten des Tapes.
Bestand über die Antworten auf diese lebensentscheidenden Fragen Klarheit, ging es zu

Schritt 2: Definition der Liedquellen.
Konkret: Wo bekomme ich die benötigten Songs her? Mögliche Lösungen:

Lösungsmöglichkeit 1: Ich besitze einige der Songs auf Platte (Idealvariante, da das Lied in bester Qualität und vollständig überspielt werden konnte)
Lösungsmöglichkeit 2: Ich habe einige der Songs in den vergangenen Wochen auf Kassette aufgenommen (der Normalfall, siehe auch meinen Blogbeitrag Die Kunst des Aufnehmens. Oder: „Hoffentlich quatscht er nicht rein!“).

Hier jedoch das Problem: Meine Stereoanlage verfügte über lediglich ein Kassettenlaufwerk – wie also sollte ich den Song von jener Kassette auf das Mixtape bekommen? Mögliche Abhilfe: (Unauffällig! … schließlich durfte niemand auch nur ahnen, dass man ein monströses Werk wie die Erstellung eines Mixtapes plante) Herumfragen, wer noch ein zweites Tapedeck besitzt und es mir leihen könnte, selbstverständlich im Austausch gegen mehrere Panini-Fußball-Bundesliga 1983/84-Sammelbilder.
Nächstes Problem: Ich besitze einen oder mehrere der Songs weder auf Platte noch auf Tape (mögliche Gründe: Ich finde den Song doof (das aber war egal, denn hier ging es schließlich nicht um mich, sondern um SIE); Ich habe ihn im Radio bislang verpasst (dies jedoch war quasi ein Ding der Unmöglichkeit)).
Lösungsmöglichkeit 3: (Unauffällig!) Herumfragen, wer die Platte bzw. den Song auf Tape besitzt.
Lösungsmöglichkeit 4: Den Song im Radio jagen (siehe einmal mehr meinen o. g. Blogbeitrag).
Sobald dies alles endlich geklärt war, wurde es ernst … Auf zu

Schritt 3: Umsetzung.
Nun zog man wie ein Ritter in die Schlacht. Es war nicht weniger als das.

Während Mama im Keller bügelte, nahm im Jugendzimmer das Schicksal seinen Lauf.

Lied für Lied wurde liebevoll platziert. Selbstverständlich hatte man zuvor eine wohldurchdachte Songliste entwickelt und dabei den perfekten Spannungsbogen kreiert, damit da im Eifer des Magnetbandgefechts nichts schief ging und man womöglich ein Lied aufspielte, das da noch gar nicht hin gehörte und sowohl den Spannungsbogen wie die geheime Botschaft verzerrte. Oder, noch schlimmer: dass man ein Lied vergaß! Während ich das heute schreibe, muss ich über alle Backen grinsen – damals jedoch war einem überhaupt nicht danach. Vielmehr hoffte man, dass Madame verstehen würde, was man ihr hier mit flammendem Herzen vermittelte – z. B. mit den ersten Worten des Songs ‚Leuchtturm‘ von Nena: „Ich geh mit dir wohin du willst – auch bis ans Ende dieser Welt!“ Wie deutlich konnte man noch sein??!? #Aaargh Oder ‚Somebody‘ von Depeche Mode: „I want somebody to share for the rest of my life, share my innermost thoughts, know my intimate details.“ Noch Fragen? Ganz zu schweigen vom bereits erwähnten Foreigner-Song ‚I Want To Know What Love Is‘ oder von Bryan Adams – ‚Heaven‘. Mehr Drama ging nicht.

Abschließende Problematiken:
War es dann endlich geschafft und glich das sorgsam ausgearbeitete Werk in puncto Detailtiefe einem Handelsabkommen zweier Großmächte, so blieben noch die Fragen „Notiere ich die Songtitel auf der Kassettenhülle oder soll es für sie eine Überraschung werden, was drauf ist?“ Hmmm … Und: „Schreibe ich ihren Namen auf die Hülle und die Kassette oder wie nenne ich das Werk?“ Hmmmmmm ….. Doch das war beides nichts gegen die finale Frage aller Fragen: „Wie soll sie das Tape erhalten – auf welchem Weg?“ Feierlich überreichen ging gar nicht, schließlich wäre das einem Eingeständnis gleich gekommen, was man für sie empfindet. Unauffällig in den Schulranzen werfen könnte sie als „zu beiläufig“ interpretieren … Also vielleicht das Gespräch so in Richtung „Aktuelle Hits“ treiben, gespielt, ganz nebenbei, anbieten, „Ich könnte dir ja mal eine Kassette machen.“, was sie nicht ablehnen würde, dadurch einerseits ihre Sympathie generieren sowie andererseits diese bis zum Tag X, dem Tag, an dem man ihr das Machwerk präsentieren würde, konservieren und ihre Erwartungshaltung maximieren? Hmmmmmmmmmm …

9 von 10 Schuljungs wissen heute: Für SIE war es lediglich eine Kassette mit Songs. #Drama

Tauscht man auf einer Party oder bei einem Klassentreffen mit einer Bekannten oder Freundin Erinnerungen aus und kommt man dann aufs Thema Musik, so fällt irgendwann auch das Stichwort „Mixtape“. Die fatale Erkenntnis: Mädels hatten nicht die leiseste Ahnung von der dramatischen Arbeit und der tiefen Bedeutung, die sich hinter einem Mixtape verbargen … Andererseits: Macht aber nicht gerade auch das irgendwie die Romantik jenes Tuns aus? Jenes Minnediensts? Auch wenn es nicht direkt etwas genutzt hat (ich kenne jedenfalls keinen Freund von früher, der mittels eines Mixtapes einen messbaren Erfolg verbucht hätte 😉 ). Ich finde: In gewisser Weise kann man ein bisschen stolz darauf sein. Denn man hat einfach sein kleines Herz in das Tape genommen und: gemacht! Womit man selbst als 13-jähriger Knirps durchaus in der Tradition der hochmittelalterlichen Kollegen stand. 😉 Ich bin sicher: Heute sind die Medienformate andere, aber das Ansinnen und die Umsetzung sind identisch. Haben Sie Kinder? Achten Sie mal darauf. Ich jedenfalls muss, wenn ich einstige Mixtape-Songs im Radio höre oder als DJ auflege, immer wieder lächeln. Weil es für mich auch heute noch etwas Besonderes ist, damals derart agiert zu haben. Weil die Tatsache, durch Musik Freude zu bereiten, damals wie heute einfach etwas Schönes ist.

Jemand Lust auf ein Mixtape?

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Es fing mit den Beatles an. Aber anders als Sie denken.

The Day the Music Died.

Tatort: Offenbach, Sprendlinger Landstraße 76, 3. Stock.
Lesedauer: 5 Minuten, die sich lohnen.

Music was my first love. Und beinahe auch meine letzte. Die erste Erinnerung meines Lebens: Meine Eltern nehmen mich auf einen Spaziergang mit und unterhalten sich dabei, dass wir um die und die Uhrzeit zurück sein müssen, weil da im Fernsehen in Bericht über die Beatles kommt. Klein-Matthias fragt, was denn die Beatles seien und meine Erzeugerin antwortet „Das ist eine Musikgruppe.“ Diese Szene habe ich so tatsächlich noch vor Augen. Es war im Treppenhaus, direkt vor der Tür unserer Dachgeschosswohnung in Offenbach, in der wir bis zum November 1974 lebten. Und ich meine sogar, mich daran zu erinnern, dass wir jenen TV-Bericht dann später zusammen anschauten, im Sinne von „Meine Eltern schauten ihn an und ich lümmelte im Wohnzimmer herum“. So weit, so gut, so unspektakulär.
Die Fortsetzung dieses meines Kennenlernprozesses der Fab Four war dann jedoch alles andere als unspektakulär. Im Gegenteil: Zum ersten Mal in meinem Leben ließ ich es ordentlich krachen.

Den Wochentag weiß ich nicht mehr. Aber es war früher Nachmittag.

Hatte ich erwähnt, dass meine Erzeuger riesige Beatles-Fans waren? Sie besaßen alle Platten der Pilzköpfe – alle. Die 7“-Singles auf Odeon Records und Apple Records, die LP’s – u. a. das ‚Weiße Album‘, ‚Revolver‘, ‚Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band‘, ‚Let it be‘ – alle. Fein säuberlich sortiert, wurden die in einem im Wohnzimmer, wenn man es betrat, an der rechten Wand auf Kniehöhe angebrachten weißen Schrank aufbewahrt. Ebenfalls darin platziert: die nagelneue, sich in einem festen Kartonschuber befindende Doppel-LP der Operette ‚Im weißen Rößl am Wolfgangsee‘. Die hatten sich meine Eltern gerade erst gegönnt, vom mühsam zusammengesparten Haushaltsgeld. Und … ich glaube, etwas von James Last war auch dabei, in einem roten Kartonschuber, ebenfalls eine Sonderedition. Die stand in dem Schrank ganz links.

Jedenfalls trug es sich eines Tages zu, dass mich meine Eltern zum obligatorischen Mittagsschlaf in mein Bettchen im von meinem Bruder und mir regierten Kinderzimmer legten. Dieses befand sich direkt neben dem Wohnzimmer. Das untere Stockwerk des Etagenbettes bewohnte mein Brüderchen, ich logierte im oberen.
Nun, im Nachhinein war es offensichtlich normal, dass uns unsere Eltern alleine in der Wohnung zurück ließen, wenn sie Besorgungen zu erledigen hatten. Sie glaubten uns ja schlafend. Einige Jahre später, als wir aus Offenbach weg gezogen waren und nördlich von Frankfurt gebaut hatten, brachten sie uns z. B. eines frühen Abends – ich war 7 oder 8 Jahre alt, mein Bruder war 2 Jahre jünger (das ist er übrigens heute noch) – früher als sonst zu Bett und ließen uns allein in unserem Haus, um nach München aufs Oktoberfest zu fahren. Kein Scherz. Spät nachts kamen sie dann wieder und wir Knirpse hatten nichts davon gemerkt, denn wir hatten durchgeschlafen. Diese Anekdote wurde später auf Familienfesten wieder und wieder erzählt. Aber egal, andere Geschichte, das hat gar nichts mit den Beatles zu tun. Beatles-bezogene Tatsache war, dass unsere Eltern an jenem hier thematisierten Nachmittag fort waren und ich meinen Mittagsschlaf hielt. Jedenfalls zunächst.

Die Ereignisse jenes schicksalhaften Nachmittags im Zeitraffer:

13:00 Uhr: Klein-Matze liegt brav im Bettchen und träumt von Entdeckungsreisen in die Welt der Musik. Mama und Papa sind weg.

13:23 Uhr: Klein-Matze wird wach. Hmmm, wach, keiner da, nix los hier – langweilig. Das ist ja doof … Ey, Leute: Alles muss man selber machen.

13:25 Uhr: A pro pos „Entdeckungsreise“. Ich verlasse mein Bett und werde der erste Teilnehmer an ‚Jugend forscht‘. Mal sehen, was passiert …

13:29 Uhr: Ich bin im Wohnzimmer angekommen. Stellen Sie sich jetzt einfach vor, ich stehe hier vor dem Plattenschrank, erfreue mich meines jugendlichen Forscherdrangs und komme mir vor wie Alexander von Humboldt, als er zum ersten Mal den Orinoco sah.

Was ich statt jenes südamerikanischen Flusses erblickte, war die Beatles-Sammlung meiner Eltern:

Stellen Sie nun selbstständig eine Verbindung zwischen jenen Vinylscheiben und diesem Beispielfoto her:

13:34 Uhr bis 14:16 Uhr: Ich finde heraus, dass Vinyl bricht, wenn man oft genug draufhaut oder wenn man es lange genug biegt. In jener Dreiviertelstunde habe ich die Beatles-Sammlung meiner Eltern zerstört. Auch das „weiße Rößl“ musste dran glauben.
Als meine Erzeuger nach Hause kamen, saß Klein-Matze jauchzend inmitten schwarzer Vinyl-Scherben.

Noch am selben Tag wurde ich in einem Schilfkörbchen auf dem Main ausgesetzt. Die Menschen, die mich später aufzogen, sind nicht meine leiblichen Eltern.

Wie ich (fast) alles wieder gut machte.

Das war natürlich nur ein Scherz. Wobei – so „natürlich“ nun auch wieder nicht. Denn Zufall oder gewollte Stigmatisierung, um mir mein Tun beständig vor Augen zu führen: Ich bekam einige der angebrochenen Schallplatten inkl. der dazu gehörenden Cover als Spielzeuge übereignet. Die lagerten noch Jahre später, als wir längst in unserem Fertighaus der Marke ‚Streif‘ lebten, in meines Bruders und meiner Spielzeugkiste. Zwar konnte ich nicht wirklich etwas damit anfangen, doch ich erinnere mich, dass ich die Gemeuchelten dann und wann heraus holte und es irgendwie faszinierend fand, dass darauf Musik abgespeichert war. Übrigens befanden sich unter den Delinquenten auch die angebrochenen 7″-Singles von Nancy Sinatra – ‚These Boots Are Made For Walking‘, sowie ‚The Swinging Blue Jeans – Hippy Hippy Shake‘. Was aus auch diesen Zeitzeugen wurde, weiß ich nicht genau, es könnte jedoch sein, dass sie in meinem Keller lagern. Sollte ich sie eines Tages finden, poste ich hier gerne ihre Porträts.

Nun, mehrere Jahre vergingen. Ich hospitierte mittlerweile in der 8. Klasse des gymnasialen Zweiges einer mittelhessischen Gesamtschule und besaß seit kurzem meine erste Stereoanlage, Marke: Pioneer. Auf die war ich bollestolz.

Just zu dieser Zeit betrat eines Morgens unserer Musiklehrer das Klassenzimmer und wir begannen, die Beatles durchzunehmen … Aus irgendeinem Grund hatte ich ein Déja-vù … Denn ich hatte das Gefühl, die Beatles bereits durchgenommen zu haben (und zwar so richtig).

Jedenfalls entdeckte ich während der kommenden Unterrichtsstunden die Fab Four neu. Viele der Songs kamen mir dabei bekannt vor – kein Wunder, waren sie doch während meiner ersten Lebensjahre des Öfteren im Radio gelaufen bzw. hatten meine Eltern ihre Platten gespielt … Die Songs, die mich nun abermals, jedoch im friedlich-wissenschaftlichen Kontext, begeisterten, waren insbesondere die Frühwerke von John, Paul, George und Ringo‚She Loves You‘‚A Hard Days Night‘ und ‚Love Me Do‘. Das tun sie übrigens bis heute: Bei dem Trommelwirbel, der ‚She Loves You‘ eröffnet, schießt mir die volle Ladung Adrenalin durch den Körper. Nun, dank des Musikunterrichts bekam ich zumindest eine Ahnung vom gefühlt so unendlichen wie genialen BeatlesOeuvre und ich erstand beim Vinylhändler meines Vertrauens, im ‚Breitenfelder‘ in der Kaiserstraße unserer Kreisstadt Friedberg, von meinem mühsam zusammengesparten Taschengeld, diese ‚Greatest Hits‘-Compilation:

Das Interessante: Dies muss im Frühjahr 1985 gewesen sein und meine zuvor erworbenen Platten waren von Depeche Mode, Duran Duran, Nena, Billy Idol und Alphaville gewesen. The Beatles stachen also heraus. Doch obwohl mit dem knappen Taschengeld extrem gut gewirtschaftet und ergo stets abgewogen werden musste „Kaufe ich davon eine Platte oder Leerkassetten zum Aufnehmen aus dem Radio?“: Dieser Kauf musste sein! Im ‚Beatles‘-Plattenfach im Breitenfelder suchte ich bewusst nach einer Greatest-Hits-Compilation und entdeckte diese Scheibe. Denn die im Musikunterricht erlebte Kreativität und die Energie dieser Songs waren zu groß, der Zauber, den sie auf mich hatten, war einzigartig – es war anders als das, was Nena und Alphaville mit mir machten. Irgendwie verspürte ich ein „Ur-Gefühl“, etwas ganz Tiefsitzendes – klar, bei der Vorgeschichte … 😉

Und so präsentierte ich, als ich mit meiner neuen runden Errungenschaft nach Hause kam, sie nicht ohne Stolz meiner Mutter. Wie sie reagierte, weiß ich allerdings nicht mehr … 😉

Zum 18. Geburtstag bekam ich die einzige Überlebende geschenkt:

Ich erhielt sie in Geschenkpapier verpackt überreicht: die einzige Platte, die jenes Massaker ohne Bruchstellen überlebt hatte. An die begleitenden Worte meiner Erzeugerin erinnere ich mich genau: „Wir sehen ja, dass du es mittlerweile zu schätzen weißt.“ Ehrfurchtsvoll platzierte ich dieses musikhistorische Ton- und Lebensdokument in die sicherste Ecke des Racks meiner Pioneer-Anlage und ich besitze sie, selbstverständlich, noch heute.

Mehr noch: Dann und wann, wenn ich mich in den vergangenen Jahren an jene Anekdote erinnerte, stöberte ich ein wenig auf ebay und erwarb einige Zeugnisse jener größten Band aller Zeiten – mit einer, wie Sie jetzt verstehen, für mich ganz besonderen Bedeutung.

Schätze, die ich hüte:

All you need is Love – and Music.

Ich finde es jedenfalls immer wieder erstaunlich, wie in frühen Lebensaltern erfahrene Musik zum gefühlten Bestandteil der persönlichen DNA wird, zum Kulturbaustein des Charakter-Fundaments. Ja, frühkindliche Musikerziehung, ob in der Kita, im Kindergarten, in der Grundschule oder durch freiberufliche Musikpädagogen, ist heute Usus. Freilich jedoch in einem didaktischen Kontext. Das wirklich Spannende ist doch das unbewusste Erlebnis, der Prägevorgang auf der Instinktebene. Das Ungeplante.

Ich finde / fände es daher schön, wenn Eltern und Kinder – und ich meine auch „Kinder im jugendlichen und erwachsenen Alter – sich u. a. über charakterbildende Parameter wie Musik austausch(t)en, wenn sie sich erzähl(t)en, welche persönlichen Erinnerungen man an diese und jene hat, welche Auslöser es hatte oder warum man heute komplett anders hört als in früheren Lebensabschnitten. Eltern vergessen leider irgendwann, wie das damals bei ihnen war, als sie jung / jünger und von Musik begeistert waren. Ja, die heute lebensthemenbedingt einen womöglich zwar geringeren Stellenwert hat, die jedoch maßgeblich zum eigenen Sein beitrug. Außer natürlich, die Kinder entdecken Sänger oder Bands für sich, die früher auch die Eltern liebten – so wie ich die Beatles. Dann ist das Hallo groß: „Ja, diiiieee fanden wir damals schon gut!“ Dann bekommen Eltern glänzende Augen und erzählen. Doch nur eine Stunde später heißt es wieder „Mach deine verdammte Musik leiser!“

Ich persönlich habe oft versucht, meinen Eltern meine Liebe zu einer bestimmten Musikform, einer bestimmten Band oder bestimmten DJ‘s zu vermitteln – vergeblich. Mit Anfang 20, Anfang der 90er-Jahre, vereinnahmte mich z. B. elektronische Musik. House und Techno erlebten ihren kreativen Höhepunkt und eroberten die Welt. Es war die bis dato letzte große Musikrevolution. Aufgewachsen vor den Toren Frankfurts, einem Epizentrum jener Musikform, zogen mich die Clubs und die Szene dieser Stadt magisch an (dazu später, an anderer Stelle, mehr). Völliges Unverständnis vonseiten meiner Eltern. Leider. Auch die Aufzeigung von Parallelen zu einstmals (in den 50ern und 60ern) von ihnen bewunderten Künstlern, wie Peter Kraus, den Beatles oder den Rattles mit Frontmann Achim Reichel, die damals ebenfalls Neues kreierten und damit begeisterten: vergebens.
An dieses Gespräch erinnere ich mich gut: „Ihr standet ja damals auf die Beatles und die Rattles.“ – „Ja, aber das war ja auch noch richtige Musik!“ – „Nun, damals war die E-Gitarre revolutionär und sorgte bei Puristen zunächst für Irritation und Ablehnung. Heute kann man Musik auch mit Computern und Synthesizern produzieren – das ist dieselbe Form einer technischen Weiterentwicklung.“ – „Aber deine DJ’s spielen doch nur Platten, die machen doch keine richtige Musik!“ Ich versuchte, ihnen das Thema „Spannungsbögen“ zu vermitteln – ohne Erfolg. Mein an jenem Abend letzter Versuch: „Wenn heute Peter Kraus im Fernsehen auftritt, Lederjacke trägt und Gitarre spielt – wie findet ihr das?“ – „Das ist doch toll, Peter Kraus ist einer aus unserer Generation, der ist ein echter Rocker, ist doch toll, wie der sein Ding durchzieht!“ – „Mein Peter Kraus heißt Sven Väth.“ Unverständnis. Kein weiteres Interesse. So schade. Denn: Ist es nicht toll, auch Musikerfahrungen miteinander zu teilen, sich auch dadurch mitzuteilen? Deshalb freue ich mich beim Auflegen als DJ jedes Mal aufs Neue darüber, wenn Menschen bei ihrer und über ihre Musik kommunizieren.

Für die Anekdote mit der Beatles-Sammlung bin ich jedenfalls sehr dankbar. Und auch dafür, anschließend nicht zur Adoption freigegeben worden zu sein, sondern mich bis heute der schönsten Nebensache der Welt widmen zu können. Sorry, Fußballfans 😉

Haben auch Sie derart prägende Erinnerungen an (Ihre) Musik? An eine bestimmte Band, an einen Künstler (w/m/d) oder an bestimmte, mit Musik in Zusammenhang stehende Erlebnisse?
Schreiben Sie es mir per Mail oder als Kommentar auf Facebook. Ich freue mich darauf! Thank you for the Music.

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